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Institut Dr. Flad
Berufskolleg für Chemie, Pharmazie, Biotechnologie und Umwelt

Ausbildung mit Markenzeichen. Seit 1951.

Prof. Ortwin Renn
"Das Risikoparadox: Fürchten wir uns vor dem Falschen?"

Gastvortrag am 24. November 2014 um 11 Uhr im Institut Dr. Flad

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"Das Risikoparadox: Fürchten wir uns vor dem Falschen?"
Gastvortrag von Prof. Ortwin Renn

"Gefahr erkannt, Gefahr gebannt!" Wie ein roter Faden durchzog unterschwellig diese These den Vortrag von Prof. Ortwin Renn. Der Ordinarius für Umwelt- und Techniksoziologie am Instituts für Sozialwissenschaften der Universität Stuttgart war zum zweiten Mal Gast am Institut. Schon 2001 hatte er sich in einem Vortrag mit nachhaltiger Entwicklung beschäftigt. Als ausgewiesener Experte auf diesem Gebiet, u.a. war er lange Jahre sowohl Mitglied des Nachhaltigkeitsbeirates des Landes Baden-Württemberg als auch Mitglied der von Bundeskanzlerin Merkel ins Leben gerufenen Ethikkommission "Zukunft der Energieversorgung", sensibilisierte er die Schüler durch seinen jüngsten Vortrag für die Thematik der Risikowahrnehmung.

"Fürchten wir uns vor dem Falschen?" Nehmen wir Risiken wahr, die real so gar nicht existieren? Unterschätzen wir dagegen echte Bedrohungen? Mittels anschaulicher Beispiele verdeutlichte Prof. Renn, dass diese Fragen häufig mit "Ja" zu beantworten sind. Darin liegt ein Paradox: Der Ist-Zustand, d.h. Daten, Fakten etc. sprechen eine andere Sprache als das, was uns unsere Wahrnehmung vermittelt. Anders ausgedrückt: Wir fürchten uns vor Dingen, die, objektiv betrachtet, nicht zum Fürchten sind und andererseits verharmlosen, verdrängen, unterschätzen wir Tendenzen, die richtig gefährlich werden können.

Deutlich wird dies zum Beispiel bei der Einschätzung von Gesundheitsrisiken. Seit dem 18. Jahrhundert steigt unsere Lebenserwartung kontinuierlich an. Die Chancen, deutlich älter als achtzig Jahre alt zu werden, wachsen von Jahr zu Jahr. Dennoch geben ca. 74% der Befragten an, ein risikoreiches Leben zu führen. Zwar kann nicht geleugnet werden, dass ein Großteil der Todesfälle der zwischen 20-70 Jahren Verstorbenen tatsächlich auf Herz-und Kreislauf-Erkrankungen sowie Krebs zurückzuführen ist; doch muss auch gesagt werden, dass man die Hauptursachen, speziell die für Herz- Kreislauf-Erkrankungen, Prof. Renn bezeichnet sie als Volkskiller (Rauchen, falsche Ernährung, mangelnde Bewegung, Alkohol), ein Stück weit selbst steuern und beeinflussen kann. Während die Lebensqualität in den OECD-Staaten ständig zunimmt, hat manch einer das Gefühl, von Tod bringenden Krankheiten umzingelt zu sein. Genauso paradox verhält es sich mit der Bewertung von Unfallrisiken. Die Wahrscheinlichkeit, an den Folgen eines Arbeits- oder Verkehrsunfalles zu sterben, ist so gering wie nie zuvor. Die Gefahr, im Haushalt bzw. in der Freizeit zu verunglücken, ist deutlich höher. Doch unsere Wahrnehmung bezüglich dieses Risikos ist verzerrt. Wer denkt ernsthaft daran, in den eigenen vier Wänden tödliche Verletzungen zu erleiden? Eine Autobahnfahrt dagegen wird als höchst gefährlich eingeschätzt.

Woher kommt diese Diskrepanz? Wie kommt ein solches Paradox zustande?

Prof. Renn führte zwei Ursachen an:

1.) Ursache und Reaktion werden häufig vorschnell in einen kausalen Zusammenhang gebracht: Weil der Handy-Mast einen Kilometer von der Wohnung entfernt steht, hat man Migräne. Dass aber von hundert Anwohnern 99 keine Kopfschmerzen bekommen, wird nicht wahrgenommen.

Natürlich tragen die Medien ihren Teil dazu bei. Tagtäglich werden wir Zeitzeugen von Katastrophen und irgendwann sind wir tatsächlich im (Irr-)Glauben, das Leben sei eine einzige Abfolge bedrohlicher Ereignisse und Afrika sei der kriegslüsterne Kontinent schlechthin.

2.) Unsicherheit erzeugt Angst: Hier spielt Vertrauen eine Schlüsselrolle. Wem traue ich überhaupt? Welche Kriterien sind dafür ausschlaggebend, dass ich jemandem glaube?

Prof. Renn klassifiziert drei Varianten: Trau keinem! Trau einem! Vertraue jemandem, der bestimmte Eigenschaften auf sich vereinigt (Farbe der Krawatte, Alter, Anzahl der Kinder)!
In der Regel steigt durch diesen Vertrauensmechanismus die Unsicherheit bzw. die Angst. Die Bewertung von Mineralwasser oder Gentechnik schwankt zwangsläufig zwischen totaler Verharmlosung und absoluter Dramatisierung.

"Gefahr erkannt, Gefahr gebannt!" Man muss sich der Mechanismen bewusst sein, nach denen Risikoeinschätzung stattfindet und man muss selbstkritisch sein eigenes Urteil hinterfragen, so das Credo des Referenten.

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Es gibt aber noch ein weiteres Paradox. Während wir die Risiken, die uns zeitlich und örtlich anscheinend direkt bedrohen, zu sehr überschätzen, unterschätzen wir bei Weitem die Gefahren, die Prof. Renn als "systemische Risiken" bezeichnet. Die Systemtheorie betrachtet die Gesellschaft als umfassendes soziales System, das sich in Subsysteme wie Politik, Wirtschaft, Recht, Religion etc. unterteilt. Alle diese Systeme sind wechselseitig voneinander abhängig. Die Finanzkrise, die Ebola-Epidemie sowie der Klimawandel sind Paradebeispiele. Alle drei sind dadurch gekennzeichnet, dass sie global auftreten, Dominoeffekte hervorrufen und sich nicht-linear entwickeln. Die weltweite Finanzkrise offenbarte sowohl das Versagen der Eigensteuerung der Banken als auch das das Versagen von Regierungen. Die Auswirkungen, die der globale "Crash" ausgelöst hat, sind heute als Dominoeffekt auf Gebieten spürbar, die man nicht unmittelbar mit der Casino-Mentalität der Banken in Verbindung bringt. Für Prof. Renn gibt es einen eindeutigen Zusammenhang zwischen dem massenhaften Ausbruch des Ebola-Erregers und der Finanzkrise. Der Zusammenbruch der weltweiten Finanzmärkte trieb viele afrikanische Volkswirtschaften geradezu in den Ruin, Kredite wurden gekündigt, drastische Sparmaßnahmen verordnet, die zu Einsparungen vor allem im sozialen Bereich führten. Schlecht ausgebildete Pflegekräfte, marode Krankenhäuser und eine desolate Infrastruktur boten in Westafrika ideale Voraussetzungen für die Verbreitung von Ebola.

Auch der Klimawandel muss als systemisches Risiko betrachtet werden. Hier zeigt sich ebenso ein Widerspruch. Einerseits sind die massiven Auswirkungen menschlicher Eingriffe in die Natur unübersehbar; andererseits gibt es anscheinend für manch einen "Experten" den Klimawandel gar nicht. Wem soll man also noch vertrauen, was soll man davon halten? Die massive Verunsicherung führt direkt in eine Krise der Moderne. Die Sinnhaftigkeit des Daseins wird in Frage gestellt - Fundamentalismus, Terrorismus, Depression, Auslöschen des eigenen Lebens, inzwischen steht der Suizid an dritter Stelle der Todesursachen, sind die Folgen. Das Gefühl der Vereinzelung, das Gefühl, allen möglichen Gefahren hilflos ausgeliefert zu sein, kann laut Prof. Renn durch Verminderung der Unsicherheit überwunden werden. Dazu gehört ernsthafte Kommunikation, dazu gehört, verloren gegangenes Vertrauen zurückzugewinnen. Risiken, allen voran die systemischen, müssen als solche benannt und bekämpft werden. Aber nicht jedes medial inszenierbare Ereignis muss als tödliche Bedrohung aufgebauscht werden.

Lektüreempfehlung:
Ortwin Renn: "Das Risikoparadox. Warum wir uns vor dem Falschen fürchten", Fischer Verlag, Frankfurt/Main, 2014;

Angela Schmitt-Bucher

 

größer Ob Reaktorkatastrophe, Ölpest, Dammbrüche, BSE, globaler Klimawandel oder Bioterrorismus - die Öffentlichkeit wird einem Wechselbad von Katastrophenmeldungen, Entwarnungen, Dramatisierungen und Verharmlosungen, Weltuntergangsprophezeiungen und paradiesischen Verheißungen ausgesetzt. Die Folge ist Verunsicherung. Können wir uns den technischen Fortschritt noch leisten? Ist es überhaupt noch ein Fortschritt, wenn wir weiterhin Technologien wie Gentechnik, optische Computer oder Nanotubes entwickeln?

In dem Vortrag geht es um Wahrnehmung von Risiken und den darauf sich ergebenden Anforderungen an Risikomanagement in Gegenwart und Zukunft. Wie hoch sind die Risiken der modernen Welt wirklich? Haben die Risiken zugenommen oder sind wir nur dieser Risiken mehr gewahr worden? Leben wir in einer Risiko- oder in einer Risikowahrnehmungsgesellschaft? Diese Fragen stehen im Mittelpunkt des Vortrages.