"Bitte wenden!" - Energie, Mobilität, Chemie
Dr. Thomas Geelhaar, Präsident der Gesellschaft Deutscher Chemiker und Senior Vice President bei Merck, besuchte bereits zum zweiten Mal in diesem Jahr das Institut.
Im Rahmen der 17. Stuttgarter Chemietage referierte er über Energie, Mobilität, Chemie. "Bitte wenden!", so das Motto seines Vortrages. Die Politik hat zwar eine Energiewende eingeleitet, doch diese muss flankiert werden mit Änderungen auch im Bereich der Mobilität. Wenn der Gedanke der Nachhaltigkeit konsequent in die Tat umgesetzt wird, führt dies auch zu einer "Wende" in der Chemie, was einerseits eine große Herausforderung andererseits aber auch eine einmalige Chance ist.
Waren die letzten Jahrzehnte durch eine erdölbasierte Chemie geprägt, wird die Zukunft zwangsläufig eine Neuausrichtung dieser Wissenschaft erfordern.
"Die Steinzeit ging nicht zu Ende, weil es keine Steine mehr gab" - mit dieser prägnanten Behauptung machte Dr. Geelhaar deutlich, weshalb seiner Meinung nach ein Umdenken in der Chemie unabdingbar ist. Selbst wenn der Ölpreis weiter drastisch sinkt, neue Techniken wie Fracking zusätzlich Öl fördern - der Klimawandel erfordert so schnell wie möglich sowohl eine Energie- als auch eine Mobilitätswende; weg vom Öl hin zu erneuerbaren Energien, hin zu innovativen Speichermethoden.
Die Grundlagen hierfür kann bzw. muss die Chemie schaffen. Das kann sie aber nicht isoliert tun. Um den Klimawandel weltweit bewältigen zu können, muss an vielen "Stellschrauben" gedreht werden. Ein komplexes Geflecht von Abhängigkeit und Beeinflussung erfordert zudem ganzheitliches Denken. Dr. Geelhaar verglich in seinem Vortrag den Klimawandel mit einer "Baustelle". Nur wenn alle Ebenen eines Gebäudes, angefangen vom "Fundament" Wissenschaft bis hin zu den einzelnen "Stockwerken" Wirtschaft, Politik, Gesellschaft... und dem "Dach" multinationaler Abkommen in permanenter Kommunikation bleiben, kann dieser Klimawandel erfolgreich gemeistert werden (siehe Abbildung).
Den Absichtserklärungen der Politik müssen Taten folgen. Es genügt nicht, Nachhaltigkeit in diversen Agenden festzuschreiben. Die notwendigen Mittel müssen dazu bereitgestellt werden, denn ein schnelles, radikales Umdenken ist dringend nötig. Die globalen Megatrends erfordern dies zweifellos.
Seit 1950 ist der Kohlendioxidausstoß immens angestiegen; verschärft wird die Situation durch die Zunahme der Weltbevölkerung auf geschätzte 9,5 Milliarden Menschen im Jahr 2050; fast 70% von ihnen werden in Mega-Städten leben.
Der Anstieg des Meeresspiegels, die Verknappung von Trinkwasser, die Sättigung der Erdatmosphäre durch Kohlendioxid - all das sind keine erfundenen Horrorszenarien, sondern wissenschaftlich belegbare Fakten.
Wie gesagt: Absichtserklärungen, eine Wende, einen Wandel in der Energie- und Mobilitätspolitik einzuleiten, gibt es genügend. Die entscheidende Frage ist die, wie dies in die Praxis umgesetzt wird.
Hier kommt die Chemie ins Spiel. Sie kann neue Wege aufzeigen, neue Technologien entwickeln. Weitermachen wie bisher wäre verantwortungslos, so das Credo von Dr. Geelhaar. Auf klimaschädliche Braunkohle zu setzen ist ebenso falsch wie im Fracking ein Allheilmittel zu sehen. Die Atomenergie ist ebenfalls keine Alternative: 50 Jahre Nutzung, 10.000 Jahre radiotoxische "Altlasten"!
Bleiben also die regenerativen Energien. Allerdings zeigt ihr Einsatz, sei es in Form von Wind oder Sonnenenergie, dass sie starken temporären Schwankungen unterliegen: Manchmal gibt es viel davon, manchmal zu wenig. Dieses Manko kann die Chemie in den Griff bekommen, mehr noch: Der Standort Deutschland bietet der Chemie die Möglichkeit, sich neu bzw. innovativ zu positionieren: Hightech-Chemie trägt zur Lösung weltweiter Probleme bei. So bieten neue chemische Verfahren die Chance, überschüssigen Strom in chemische Energieträger umzuwandeln (Power-to-X). Ebenso könnte die Chemie die Voraussetzungen dafür schaffen, dass das Recycling mineralischer Rohstoffe einen ganz anderen Stellenwert einnimmt. Wenn die Industrie auf neue Produktionsprozesse umstellt, d.h. Hochfahren der Produktion bei Energieüberschuss, Zurückfahren bei Energiemangel, könnte dieser Mix von Maßnahmen eine erfolgreiche "Wende" zur Folge haben.
Erste Ansätze sind laut Dr. Geelhaar mit den "Kopernikusprojekten" gemacht. Es bleibt aber noch viel zu tun, auch für die Politik. Was die "Wende" bei der Mobilität anbelangt, hat sie ihr selbst gestecktes Ziel weit verfehlt. Anstelle von angepeilten 100 000 E-Autos fuhren im Jahr 2014 lediglich 14 000 auf bundesdeutschen Straßen. Sowohl für die Forschung, die Industrie als auch für die Verbraucher müssen also dringend attraktive Anreize geschaffen werden, damit die "Baustelle" Klimawandel ein erfolgreiches Gemeinschaftsprojekt wird.
"Bitte wenden!" Wir stehen vor großen Herausforderungen; die Zukunft unserer Kinder und Enkelkinder steht auf dem Spiel, wenn wir weitermachen wie bisher. Der Vortrag von Dr. Geelhaar zeigte aber auch: Die Akzeptanz der Chemie in der Gesellschaft hängt davon ab, inwieweit sie ihren Teil dazu beiträgt, die globalen Probleme zu lösen. Diese Chance sollte sie nutzen.
Angela Schmitt-Bucher
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